Psychischer Gesundheitsschutz – Unternehmenszweck und Organisationsaufgabe

14. Juni 2021 | 0 Kommentare

In einem Interview mit der Zeit vom 10.09.2020 spricht der Netflix-Gründer Reed Hastings über den Erfolg und die Kultur seines Unternehmens. Darin hebt er die Schnelligkeit und die Innovationsfähigkeit seines Unternehmens als den zentralen Erfolgsfaktor in einem extrem volatilen Umfeld hervor. Um dies zu erreichen, gibt er seinen Beschäftigten maximale Freiheit und so gut wie keine Regeln vor. Regeln schaden der Kreativität, meint er. Es gibt Führungskräfte die Erfolgsverantwortung haben und es gibt die restlichen MA, die selbst entscheiden, wann sie was warum machen. So weit, so gut. Hastings meint, es ist ein Führen am Rande des Chaos. Die einzigen Regeln sind „normale“ soziale Commitments („man kommt nicht nackt zur Arbeit“). Es zählt alleine das Ergebnis, die Leistung. Wenn die nicht stimmt, muss man gehen.

Netflix – ein verantwortungsloses Organisationsmodell

Netflix betreibt ein Organisationsmodell, das auf Verschleiß und auch nach Aussage von Hastings auf die Auslese der „Besten“ ausgerichtet ist, die sich gegenseitig puschen, kooperieren und auch konkurrieren. Es ist ein Kampf um die obersten Sprossen der Netflix-Leiter. Maximale Freiheit, maximale Leistungsorientierung und maximale Gehälter paaren sich mit der Angst vor Versagen, der Angst vor Kündigung. Das Vertragsmodell zwischen Netflix und seinen Beschäftigten basiert auf dem sozialdarwinistischen Modell „survival the fittest“, in dem kein Platz für Mittelmaß ist. Eine Anstellung ist prinzipiell ein Deal auf Zeit. Die Ablösung durch einen „Besseren“ ist eingepreist. Das schafft Erfolg, solange genügend „Nachschub“ da ist, solange es genug Beschäftigte gibt, die bei diesem Spiel mitmachen und die gibt es.

Nach rein betriebswirtschaftlichen Kategorien dürfte Netflix eine sehr effektive Organisation sein, weil sie mit dieser „regellosen“, auf Freiheit, Selbstorganisation und Auslese getrimmten Organisation das Ziel der optimalen Befriedigung des Kundenwunsches und des damit verbundenen Profits am optimalsten erreicht. Die vorhandenen Ressourcen werden maximal profitabel eingesetzt. Auch wenn der Aktienkurs aktuell schwächelt, ist der Aktienwert in den letzten 10 Jahren um das 15-fache gestiegen. Die Kollateralschäden, die so eine Unternehmenskultur schaffen, werden scheinbar nicht beachtet, weil nicht vermieden. Sie werden in Form von Arbeitslosenunterstützung, Kosten für psychische Erkrankungen und deren sozialen Folgekosten externalisiert. Insofern ist oder hat Netflix keine verantwortungsvolle Organisation, weil sie nur die Verantwortung für die monetären Folgen ihres Handelns gegenüber den Eigentümern, nicht aber für die Folgen gegenüber den eigenen Beschäftigten übernimmt. Der Zweck des Unternehmens Netflix ist ausschließlich auf die Profitinteressen ihrer Eigentümer ausgerichtet.

Der Zweck eines Unternehmens

Wie Netflix, ist jedes andere Unternehmen auch ein soziales System das überleben will. Überleben ist der „primäre Zweck“ eines jeden Systems: Es will nicht sterben, weil es lebt. Es will nicht ins „davor“ zurückgehen. Dazu braucht es „sekundäre Zwecke“, die ihm das Überleben möglich machen. Für ein Wirtschaftsunternehmen ist Überleben immer und zwangsläufig mit Gewinn machen verbunden, denn ohne Gewinn kann kein Unternehmen fürs Überleben notwendige Investitionen tätigen. Dafür schafft es Produkte und Dienstleistung und bietet es mit einem Nutzenversprechen auf einem Markt gegen Geld an. So möchte es überleben.

Man kann also sagen, dass aus dem „primären Überlebenszweck“, die „sekundären Zwecke“ des Gewinns und der Schaffung eines Kundennutzens folgen. Hier hören dann viele Unternehmen auf, wenn sie über den Sinn und die Legitimation Ihres Unternehmens sprechen. Psychologisch und marketingmäßig ist das ja durchaus verständlich, weil man die frohe Botschaft des positiv konnotierten „Kundennutzens“ in der Vordergrund stellen will. Der Gewinn wird eher als eine Notwendigkeit und als Folge guter Erfüllung des Kundennutzens in den Hintergrund geschoben. Jedoch ist dies alles ohne Ressourceneinsatz nicht möglich und die wichtigste Ressource für ein Unternehmen ist immer noch die Mitarbeiterin, der Mitarbeiter. Deshalb muss bei der Nennung der wesentlichen Unternehmenszwecke die „Ressourcenpflege“ i.S. der Gewinnung und Erhaltung eines wichtigen, teuren und knappen Guts, gleichrangig mit dem Gewinn und dem Kundennutzen stehen.

Der Zweck einer Organisation

Warum nun ist der Unternehmenszweck für die Unternehmensorganisation so wichtig?

Zum einen, weil es die zentrale Aufgabe einer jeden Unternehmensorganisation ist, die Unternehmensziele und -zwecke möglichst effektiv und effizient zu erfüllen. Die Organisation richtet sich in ihrer Struktur ganz auf den Unternehmenszweck, das Unternehmensziel aus. Dazu bildet sie feste und/oder flexible Organisationseinheiten, weist diesen bestimmte Aufgaben, Funktionen, Verantwortlichkeiten und Ressourcen zu, definiert verbindliche Handlungs- und Kommunikationsprozesse und ermöglicht schnelle Anpassungen an Marktveränderungen.

Zum anderen, weil es einen fundamentalen Unterschied macht, ob eine Organisation nur auf die Unternehmenszwecke „Profit“ und „Kundennutzen“ oder auch auf den Unternehmenszweck „Ressourcenpflege“ ausgerichtet ist. Ressourcenpflege und Gewinn stehen wesensmäßig in einem natürlichen Spannungsverhältnis, weil Ressourcen eben nicht nur „Kapital“ sondern auch „Kostenblöcke“ darstellen. Wirklich interessant wird es an der Stelle, wie viel man sich die Ressourcenpflege im Konfliktfall dann tatsächlich kosten lässt: Investiere ich auch dann in die Ressource, wenn der Ertrag sinkt? Jedenfalls hält eine verantwortliche Unternehmensorganisation mit ihren Strukturen und Prozessen diese drei sekundären Unternehmenszwecke in der Balance.

Psychischer Gesundheitsschutz als Organisationsaufgabe

Mitarbeiter sind unser wichtigstes Kapital: Das hört und liest man fast überall. Ja, und es stimmt natürlich auch. Dieser Satz impliziert, dass man einiges dafür tut, diese wichtige Ressource zu pflegen und zu erhalten. Arbeitsrechtlich ist das als „Mitarbeiterfürsorge“ kodifiziert, im realen Unternehmensalltag meint es meistens die Unterstützung bei Krankheit, Stress und Überforderung. Psychischer Gesundheitsschutz heißt aber nicht nur Unterstützung, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, sondern es meint in allererster Linie vor allem auch Prävention. Ein kluges und nachhaltig orientiertes Unternehmen fördert durch gute Führung, durch Unterstützungsangebote (Gesundheitsförderung, betriebliche Sozialberatung, etc.) und durch gute Organisationsstrukturen den psychischen Gesundheitsschutz, indem es dauerhafte Überlastung, Misserfolg, mentale Überforderung und ein schlechtes Betriebsklima vermeidet. Es möchte, dass sich die Beschäftigten an ihrem Arbeitsplatz wohlfühlen, weil dies ihre Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit erhält und die Schaffung eines Kundennutzens überhaupt erst möglich macht.

Dieses psychische Wohlbefinden gerät durch eine zunehmend verdichtete Arbeitsorganisation und eine immer schneller werdenden Veränderungs- und Anpassungsgeschwindigkeit mehr denn je in Gefahr: Es sind dies v.a. die seit Jahren stetig ansteigenden Zahlen psychischer Erkrankung und die nicht diagnostizierten, aber erschöpften und unmotivierten „Minderleister“, die unter dem Radar dauerhaft überfordert und/oder unzufrieden arbeiten. Auch deshalb hat der Gesetzgeber seit Ende 2013 die Pflicht der Unternehmen zu regelmäßigen psychischen Gefährdungsbeurteilungen festgeschrieben.

Neben der Führung und der Teamsituation als wesentliche soziale Risiko- oder auch Schutzfaktoren, gibt es zwei organisationale Risikofaktoren, die für die psychische Belastung wesentlich sind: Unklare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten sowie mangelnde Ressourcen. Ein vorausschauender und präventiver psychischer Gesundheitsschutz muss bei der organisationalen Absicherung, d.h. bei den Arbeitsbedingungen beginnen, denn beides berührt unmittelbar auch die Führung, die Motivation der Beschäftigten und die Interaktion am Arbeitsplatz.

Zuständigkeit und psychische Gesundheit

Eine Organisation weist einem Beschäftigten oder auch einer Gruppe eine oder mehrere Aufgaben und damit die Verantwortung, d. h. die Rechenschaftspflicht für eine mindestens gute Aufgabenerfüllung zu. Damit sind sämtliche damit unmittelbar verbundenen technischen, prozessualen und kommunikativen Nebenaufgaben mit inbegriffen. Mit dieser Zuständigkeit und Aufgabenzuweisung sind bestimmte Kompetenzen, Rechte und Pflichten verbunden. So ist der normale Mitarbeiter primär für die gute Aufgabenerledigung und die Führungskraft v. a. für die Ressourcenallokation, den Prozess und das Teamklima zuständig. Er moderiert dies im Idealfall gemeinsam mit den Beschäftigten, hat aber die letztendliche Verantwortung für alles. Dafür ist er Führungskraft.

Zuständigkeit reduziert Komplexität

Ziel dieser Zuweisung ist es, nicht immer wieder neu verhandeln zu müssen, wer was macht. Das spart Transaktionskosten. Eine gute Organisation reduziert dadurch Komplexität. Nun weiß natürlich jeder, dass mit so einer Zuweisung von Aufgaben nicht alles klar geregelt ist. Ein volatiles Marktgeschehen hält sich nicht an irgendwelche Regelungen, sodass neue und unklare Situationen und Fälle immer wieder einzeln betrachtet und neu zugeordnet werden müssen. Aufgrund der neuen Situation, des neuen Problems müssen nun aus einem Kreis der „möglicherweise Zuständigen und Betroffenen“ die Zuständigkeiten und Aufgaben neu verteilt werden. Dies betrifft insbesondere teamübergreifende Aufgaben und Projekte. Wer dies macht und wie dies gemacht wird, sollte durch vorher festgelegten Abstimmungs- und Kommunikationsprozeduren festgelegt werden. Es gibt also keine Vorabfestlegungen zur Zuständigkeit, so z. B. Zuständigkeit aufgrund inhaltlicher Nähe, weil noch weitere Faktoren wie Ressourcen, Prioritäten, etc. berücksichtigt werden müssen.

Eine Organisation ist hierdurch auch innerhalb einer rationalen Zuständigkeitsmatrix flexibel und variabel genug, um sich immer wieder neu anpassen und Einzelfallzuordnungen zu treffen. Vorab festgelegte „Handlungs- und Entscheidungsprozeduren bei Unklarheit“ sind essenziell in einem volatilen Marktumfeld. Leider gibt es solche in den wenigsten Unternehmen. Die meisten Prozeduren betreffen immer noch technische und erwartbare Ereignisse.

Typische Verantwortungsabwehrstrategien

Was passiert aber, wenn in einer Organisation die Aufgabenzuteilung nur im Groben geregelt ist, weil man sich davon mehr Flexibilität verspricht und damit eigentlich jeden anspricht, der prinzipiell verantwortlich sein könnte. Es geschieht das, was in ungeregelten Strukturen oft geschieht, wenn unterschiedliche Charaktere in einem Bereich/Abteilungen kooperieren müssen: der prosoziale, hilfsbereite, sich prinzipiell verantwortliche fühlende und mit der Arbeit sehr verbundene MA nimmt sich der Sache an, der Rest wehrt ab. Hierarchisch stärkere,  der unsozialere oder auch die „mitarbeiterfreundliche Führungskraft“ geben die Verantwortung ab. Es zeigen sich vier Hauptstrategien der Verantwortungsabwehr:

TYP 1

„Das geht mich nichts an, weil du zuständig bist…“ (aggressive Ich-Durchsetzung durch Rationalität – scheinbare Klarheit, wo keine Klarheit ist)

TYP 2

„Ich bin überlastet, ich kann mich nicht darum kümmern…“ (individuelle Überforderung wird vermittelt – Selbstschutz durch Provokation von Mitleid)

TYP 3

„Bitte kümmere dich darum und gib mir bis morgen Bescheid…“ (Abschiebung der Verantwortung durch Führungskraft qua Macht)

TYP 4

„Ich weiß, dass du grade viel um die Ohren hast, aber du bist der einzige dem ich das zutraue…“ (die scheinbar partizipative Führungskraft, die Selbstmotivation und Anerkennungsbedürfnisse beim MA gezielt anspricht)

Was bleibt ist ein überforderter Mitarbeiter, der sich keine dieser Strategien zu eigen macht, weil er schlicht und einfach nur an einer Problemlösung interessiert ist. Ihm geht es primär um die Sache, den anderen geht es primär um Vermeidung von Überlastung und Angst vor Verantwortungsübernahme. Letztlich ist es von der Persönlichkeit eines MA abhängig, ob etwas getan wird, ob eine Aufgabe angegangen oder ob ein Problem gelöst wird oder nicht. Es ist letztlich ein Akt der Willkür. Unklare Zuständigkeiten und nicht gelebte Verantwortung erzeugen Stress bei einzelnen Beschäftigten und in den Teams. Es kommt zu einer asymmetrischen Lastenverteilung und zu „kollektiver Verwirrung“, weil das Richtige unklar ist. Die einen verstecken sich hinter der Verwirrung, die anderen leiden darunter.

Trennung von Verantwortung und Aufgabenerledigung

Auch wenn nicht klar ist, wer die Aufgaben übernimmt, muss immer klar sein, wer die Verantwortung dafür hat, dass die Aufgabe erledigt wird. Derjenige weist dann die Aufgabe zu oder sorgt dafür, dass die Aufgabe sinnvoll zugewiesen wird. Die Aufgabenerledigung muss von der Aufgabenzuweisung getrennt werden, weil es sehr unterschiedliche Kriterien für die Beurteilung einer Aufgabenzuweisung gibt: Ressourcen, Fähigkeit, Notwendigkeit, Ziel des Auftraggebers, Prioritäten, etc.. Diese müssen gesamthaft, also eher von einer „höheren Warte“ aus betrachtet werden, bevor die Aufgabe zugewiesen und erledigt wird. Aufgabenzuweisung und Aufgabenerledigung sind zwei getrennte Prozesse.

In einer hierarchischen Organisation hat immer die Führungskraft die Verantwortung der Aufgabenzuweisung, in agilen und selbstorganisierten Orga-Einheiten haben dies in der Regel die entsprechenden Teams selbst. Hier hat prinzipiell jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter die Verantwortung für alles, was heißt, dass sie sich intern so organisieren, dass externe Anfragen, Aufgaben und Projekte aus Sicht von außen auch eindeutig adressierbar sind und dann intern bearbeitet werden können. In solchen Teams wird also gewährleistet, dass das Team als Ganzes durch interne Organisation die Verantwortung für die Aufgabenzuweisung übernimmt. Wer dann die Aufgabe tatsächlich übernimmt oder ob überhaupt, wird dann gemeinschaftlich erörtert und entschieden.

Im Gegensatz dazu ergibt sich in hierarchischen Gruppen die Zuständigkeit der Führungskraft aus seiner Führungsrolle. Der Kern dieser Rolle ist das Klären von Unklarem, das Managen von Mängeln, das Lösen von Problemen, die Abstimmung bzgl. Ressourcen und die Gewährleistung, dass MA ihre Arbeit gut machen können. Eine Abschiebung dieser Verantwortung an einzelne Beschäftigte oder ans Team, wäre Verantwortungsverweigerung. Eine Partizipation der Beschäftigten ist aber trotzdem sinnvoll. Leider verwechseln viele Führungskräfte Partizipation oft mit Verantwortungsübertragung: klärt das mal selber!

Ressourcen und psychische Gesundheit

Für die Erstellung der Produkte und Dienstleistungen werden Ressourcen, in Form von Beschäftigten, Produktionsmittel und Wissen benötigt. Der Ressourceneinsatz sollte effektiv (die richtigen Dinge tun) und effizient (die richtigen Dinge richtig tun) sein und es sollten dann auch genügend Ressourcen zur Verfügung stehen. Eine Organisation muss beides sicherstellen. Ohne eine solche Sicherstellung hätte die Organisation ihre Legitimation verloren. Dafür ist sie da. Gleichzeitig sollte eine Organisation auch flexibel sein, um z.B. bei fehlenden Ressourcen (Mitarbeiter sind krank, Maschinen defekt, Teile fehlen, etc.) oder zusätzlichen Aufträgen schnelle Entscheidungen bzgl. eines veränderten Ressourceneinsatzes und einer Veränderung der Prioritäten zu treffen.

Zu wenig Ressourcen

Leider ist es immer wieder auch so, dass Ressourcen aus Kostengründen bewusst und dauerhaft knapper als notwendig gehalten werden oder dass bei fehlenden Ressourcen Kundenversprechen nicht entsprechend abgeändert werden, um den Kunden nicht zu enttäuschen oder zu verlieren. Die Folge ist, dass Beschäftigte dadurch gezwungen sind „noch mehr zu geben“. Der Beschäftigte wird mit der Marktsituation unmittelbar und ungefiltert konfrontiert, so wie, wenn es kein moderierendes Management gäbe. In der seriellen Fertigung weniger komplexer Produkte und Dienstleistungen (Fleisch- und Textilindustrie, Handel, Logistik, etc.) kann man in solchen Fällen durchaus von Ausbeutung in prekären Arbeitsverhältnissen sprechen.

Dagegen fördert man in der gut bezahlten und sauberen „Industrie 4.0“ nicht nur die ständige Optimierung von Prozessen, sondern auch die Selbstoptimierung der Beschäftigten, i.S. einer Erhöhung der Leistungsfähigkeit als Bonus- und Entwicklungsprogramm (Stichwort Challenge). Auch wenn überhaupt nichts gegen Mitarbeiterentwicklung durch neue Herausforderungen einzuwenden ist, geht es hier natürlich auch darum, mehr aus den Beschäftigten „rauszuholen“, um mit weniger Ressourcen auszukommen. Der Umstand zu knapper Ressourcen bleibt, die Etikettierungen ändern sich.

Natürlich muss ein Unternehmen auf die Kostenseite schauen, aber ein ausschließlich auf Kostensenkung ausgerichtetes Management geht auf Kosten der Mitarbeiter, weil ihnen die Ressourcen für die „zweckfreie Reproduktion“ beschnitten werden und weil es ein Mindset fördert, wonach der Beschäftigte in eine dauerhaften Bringschuld für die eigene Verbesserung gesetzt ist. Ein Denken, das den Kunden nicht auch mal enttäuschen darf und den Beschäftigten nur noch als Optimierungsmittel betrachtet, basiert auf einer ausschließlich kosten- und nutzenorientierten Geschäftsbeziehung und nicht auch auf einer Vertrags- und persönlichen Beziehung, die auf Langfristigkeit angelegt ist. Beides ist weder fair noch nachhaltig. Die Organisation der knappen Ressourcen fokussiert sich auf Kostensenkung und nicht auf Ressourcenpflege.

Fehlendes Ressourcenmanagement

Viel häufiger ist es aber so, dass die Beschäftigten v.a. in den Serviceeinheiten (Entwicklung, Marketing, HR, Controlling, etc.) überwiegend über Ziele gesteuert werden. Die Hymnen auf die sog. OKRs, (Objektivs – Key – Results) hört und liest man überall. Im Prinzip wäre dies ja auch gut, wenn dies mit einer entsprechenden Ressourcenplanung einhergehen würde. In solchen Servicefunktionen umfasst die Arbeit immer die „normalen Aufgaben“ und zusätzliche diverse Projekte. Meistens sind die Ressourcen in solchen Projekten, wenn überhaupt nur sehr vage bezeichnet, weil sie wg. der Offenheit der anfänglichen Situation nur schwer zu quantifizieren sind. Jedoch sollten diese dann im Laufe der zunehmenden Iterationen aber immer klarer und auch hinterlegt werden. Dennoch ist es aber oft so, dass erst über Ressourcen gesprochen wird, wenn das Projekt einen so großen Fortschritt gemacht hat, dass nichts mehr rückgängig gemacht werden kann. Die notwendigen Ressourcen zum Fortfahren sind aber immer noch nicht verfügbar und die Beschäftigten leisten über die anfängliche „Extrameile“ hinaus dauerhaft Mehrarbeit. Die Ressourcenfrage ist als „Prozessschritt“ in der Organisation nicht ausreichend berücksichtigt.

Überforderung durch fehlenden Priorisierung und durch Masse

In der Regel hat der Beschäftigte mehrere Aufgaben mit unterschiedlich starren Fristen. Je nach Aufgabenumfang, Ressourcen und Fristen kann er das Ganze durch Priorisierung händeln, weil er ja am besten weiß, wie lange er wofür braucht. Er macht sich ein Plan, wann er was macht. Das Ganze ist einigermaßen übersichtlich. Entscheidend ist hierbei, dass er eine Sache fertig macht, bevor er die nächste beginnt. Kommen jedoch neue Aufgaben ohne neue Ressourcenplanung dazu oder überschreitet, auch bei ausreichenden Ressourcen, das schiere Aufgabenvolumen eine bestimmte Grenze entgleitet ihr/ihm die Steuerung. Der Mitarbeiter, die Mitarbeiterin sieht kein Land mehr. Bei fehlenden Ressourcen müsste es zu einer neuen, mit den externen Stakeholdern abgestimmten Priorisierung kommen. Bei zu viel Aufgaben, bei zu viel Bällen in der Luft, müsste es zu einer Reduzierung der Aufgaben kommen, und zwar so, dass der Beschäftigte das Gefühl hat, diese Aufgabenmenge in Bezug auf einen bestimmten Zeitraum selbst gut organisieren zu können. Es gibt eine Überforderung aufgrund der schieren Masse.

Was macht der Beschäftigte in so einer Situation? Weil er sich dem Kunden ggü. direkt in der Verantwortung sieht, beginnt er mit Multitasking anstatt, wie gewohnt und auch richtig, mit seriellem Arbeiten weiterzumachen und eine Neupriorisierung einzufordern. Zusätzlich wird die zusätzliche Aufgabenlast zum Aufgabenberg, bei dem das Ende nicht mehr in Sicht ist. Der Prozessschritt der Neupriorisierung bei Zusatzaufgaben ist nicht automatisiert und/oder wird nicht beachtet.

Multitasking – geht nicht und erzeugt Frust

Psychologisch ist die Beendigung einer Aufgabe von allergrößter Bedeutung. Für das Gehirn ist es erst dann ein Erfolg, wenn die (Teil-)Aufgabe beendet ist. Wenn die Aufgabe dann auch noch gut beendet ist, ist es ein noch größer Erfolg. Erfolg ohne Ende gibt es nicht. Bei Erfolg bildet das Gehirn neue Synapsen. Bei dauerhaftem Misserfolg werden Synapsen trotz Aktivität nicht aufgebaut oder bilden sich wieder zurück. Das Ende nicht absehen können, die Aufgaben nicht beenden zu können oder auch Unterbrechungen erzeugen Stress, Erschöpfung und sind ein Motivationskiller. Der Versuch fehlende Ressourcen und fehlende Priorisierung durch Mehrarbeit und Multitasking zu kompensieren, damit die Ware rechtzeitig und fehlerfrei geliefert wird, ist für den Beschäftigten der wesentliche Grund von Überlastung. Unabhängig davon funktioniert Multitasking auch nicht, weil es in Wirklichkeit ein ständiges Umschalten zwischen den Aufgaben und damit ein ständiges Unterbrechen ist. Richtig wäre es, das Problem der fehlenden Ressourcen und Priorisierung zu eskalieren. Viele schaffen oder wollen das nicht, weil sie sich ja als „würdig“ erweisen wollen. Wenn eine Arbeitsorganisation den Beschäftigten zum „Multitasking“, also zum ständigen Umschalten zwingt und ihm serielles Abarbeiten nicht ermöglicht, schädigt es die psychische und auch körperliche Gesundheit der Beschäftigten.

Das Management hat die Ressourcenverantwortung

Verantwortung hat immer derjenige, der Handlungs- und Entscheidungsspielräume hat. Die Freiheit zu wählen ist eine Voraussetzung der Verantwortung. Für den Beschäftigten bedeutet das, dass er wählen und entscheiden kann, was er wann im Rahmen der Randbedingungen (Lieferfristen, Ressourcen, Aufgaben, Qualität, etc.) macht. Er hat ferner die Verantwortung, dass er kommuniziert, wenn er das nicht mehr händeln kann, weil es ihm zu viel wird, weil Prioritäten und Ressourcen fehlen oder weil es zu schwierig wird. Die Führungskraft hingegen hat gemeinsam mit seinem Mitarbeiter die Verantwortung einer Neupriorisierung und er hat aus Sicht des Mitarbeiters die alleinige Verantwortung für die Bereitstellung der Ressourcen, weil er den Einfluss dazu hat. Letztendlich und gesamthaft hat aber das Management die Verantwortung für die Freigabe der Ressourcen.

Wenn das Unternehmen regelmäßig mehr Aufträge annimmt, als es aktuell bearbeiten kann und dabei keinen Plan hat, wie es die dazu notwendige Ressourcen bereitstellt, diese Aufträge aber trotzdem „in die Mannschaft kippt“, ohne dass andere Projekte und Kundenwünsche verschoben werden, wird die Verantwortung nicht wahrgenommen. Die Verantwortung für den Kundenwunsch wird auf den Beschäftigten geschoben, der dadurch in ein Dilemma gerät: Egal was er macht, schädigt er jemanden, entweder sich selbst oder den Kunden. Der Mitarbeiter verschwendet seine Kraft in das aussichtslose Priorisieren von zu viel Arbeit, damit alle zufrieden werden. Was bleibt sind ausgebrannte und frustrierte Mitarbeiter, Ressourcen die dauerhaft fehlen.

Fazit – was fördert den psychischen Arbeitsschutz?

Zunächst einmal sollte jedes Unternehmen anerkennen, dass das Wohlbefinden der Beschäftigten genauso und gleichrangig zum Unternehmenszweck gehört wie das Gewinn machen. Weiterhin sollten Unternehmen erkennen, welch große Bedeutung organisationale Faktoren wie die klare Definition von Zuständigkeiten und eine gute Ressourcenplanung für die psychische Gesundheit haben. Sie sind neben dem Beziehungsgeschehen im Team und in der Führungsarbeit die entscheidenden Einflussfaktoren auf die psychische Gesundheit der Beschäftigten. Egal ob ein Unternehmen überwiegend mit einer hierarchischen, in einer Projekt- oder auch in einer dezentralen und eher selbstorganisierten Organisationsstruktur unterwegs ist, muss die Aufgabenerledigung systemisch von der Ressourcenverantwortung getrennt werden und es muss immer klar sein, wer wofür die Verantwortung trägt. Zu oft können sich Führungskräfte hinter unklaren oder fehlenden Zuständigkeitszuordnungen verstecken. Klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten schaden nicht der Flexibilität, sondern sie befördert sie, weil sie Such- und Klärungsaktivitäten reduziert und damit mehr Zeit für die eigentlichen Problemlösungen hat. Im volatilen Industrieumfeld sind deshalb v.a. Prozessschritte bei „unklaren Handlungs- und Entscheidungssituationen“ zu definieren.

Bei jeder zusätzlichen und neuen Aufgabe muss die Ressourcen- und die Priorisierungsfrage automatisch gestellt und beantwortet werden. Ja, man kann, auch ethisch betrachtet, die Extrameile von jedem Beschäftigten verlangen, weil er sich freiwillig in ein Arbeitsverhältnis begeben hat, das von einer gewissen und schwer zu kontrollierenden Wechselhaftigkeit geprägt ist, die ihn deshalb zu einer entsprechenden Anpassung verpflichtet. Gleichermaßen muss man aber vom Management auch verlangen, dass es auch die Grenze der Zumutbarkeit an Flexibilität und „Extrameilen“ erkennt, sodass regelhaft und im Normalbetrieb immer ausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Die Verantwortung für den Kundennutzen hat immer der, der ihn verspricht.