Ernstfall Integrität – Wieviel Wert haben Werte?

3. Nov. 2020 | 0 Kommentare

Würde man Menschen auf der Straße fragen, was sie unter Integrität verstehen, würden, falls sie mit dem Begriff überhaupt etwas anfangen könnten, die meisten sicher sagen, dass sie Anständigkeit, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, etc. damit verbinden. Als Beispiel würden Sie vielleicht den integren Politiker, die integre Führungskraft oder den integren Arzt damit verbinden. Insgesamt meinen sie damit, dass dieser Mensch tut, was er sagt, dass er ehrlich und nicht korrumpierbar ist, dass man sich auf ihn verlassen kann und dass er es gut mit ihnen meint und in erster Linie nicht nach seinem eigenen Vorteil schaut. Ein aufrichtiger und tugendhafter Mensch mit Charakter eben. 

Im Bereich des Wirtschaftslebens assoziiert man mit Integrität fast schon nostalgisch den „ehrbaren Kaufmann“, der alles überblickt, auf dessen Wort man sich verlassen kann, der ehrlich ist und niemand „übers Ohr haut“. Häufiger und negativ verbindet man mit Integrität in der Wirtschaft jedoch wahrscheinlich eher Skandale und Betrügereien, die in den letzten Jahren, zumindest scheint es so, zugenommen haben. Jedenfalls hat sich die Bundesregierung veranlasst gesehen, ein Gesetz zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft zu verabschieden (Entwurf wurde jüngst vorgestellt). In jedem Fall ist Integrität ein zentrales Thema der Wirtschaft. So proklamierten beispielsweise Roche und Microsoft im Kontext des Nachdenkens über ihren „tieferen Unternehmenszweck“ Integrität zu einem der zentralen Werte ihrer Unternehmenskultur.

Den ehrbaren Kaufmann, der alles steuert, dem alles zurechenbar ist, gibt es so nun nicht mehr, stattdessen gibt es Leitbilder, Managementstrukturen, Verträge, Richtlinien, Normen und Gesetze, die die Unübersichtlichkeit einer globalisierten Wirtschaft ordnen und strukturieren sollen. Compliance hat den ehrbaren Kaufmann in weiten Bereichen abgelöst. 

Integrität und Compliance

Compliance als regeltreues Verhalten in Unternehmen, wird vielfach und fälschlicherweise mit Integrität gleichgesetzt.

Von der Wortbedeutung her bedeutet Compliance „sich zu fügen“, „sich an Recht und Ordnung zu halten“ und Integrität meint „Unversehrtheit“ „Unverletzlichkeit“ und „Widerspruchsfreiheit“, was sinngemäß bedeutet, dass es eine Übereinstimmung, eine Kongruenz zwischen Wort und Tat, zwischen Überzeugung und Handlung gibt. Beide Wortbedeutungen meinen auf den ersten Blick das Gleiche, nämlich ein kongruentes Handeln einmal in Bezug auf Recht und Regeln (Compliance) und das andere Mal in Bezug auf die eigene Überzeugung (Integrität).

Die Bedeutung von Integrität hat sich durch den Sprachgebrauch aber dahingehend erweitert, dass damit nicht irgendeine Überzeugung gemeint ist, sondern dass mit Überzeugungen dezidiert moralische und ethisch reflektierte Überzeugungen gemeint sind. Man würde ja schließlich den FIFA- und VW-Verantwortlichen nicht Integrität bescheinigen, weil sie beim Betrug, bei der Korruption entsprechend ihrer Überzeugung, also kongruent gehandelt haben. Nein, sie haben eben nicht integer gehandelt, weil sie nach ethisch-moralischen Kriterien auf ganzer Linie versagt haben. Insofern geht es bei der Integrität nicht nur um kongruentes Handeln, sondern um moralisch gebundenes Handeln.

Hierin liegt auch der kategoriale Unterschied zur Compliance: Integrität bindet sich an ethisch reflektierte Werte, nicht an irgendeine Moral (auch die Mafia und die KZ-Wächter haben eine Moral), sondern an eine gute Moral, die das „Du“, das Gemeinwohl, die Menschenwürde, die Gerechtigkeit, kurz das „Anständige“ zum Maßstab hat. Compliance hingegen bindet sich an Gesetze, Richtlinien und verschriftlichte unternehmensinterne Regeln. Compliance gibt Regeln vor, die befolgt werden sollen, Integrität gleicht externe Handlungserwartungen und Anforderungen (Complianceregeln, Richtlinien, strategische Vorgaben) mit eigenen reflektierten Überzeugungen ab und überführt sie dann in eine Handlung. Compliance-Handeln ist eher fremdgesteuert, Integrität ist eher selbstgesteuert.

Integrität als riskantes Handeln

Compliance und Integrität können kongruent, komplementär oder auch konfliktär sein.

  • Kongruent: Regelhaftes und integres Verhalten stimmen überein: „Ich nehme kein Schmiergeld an und finde das auch gut so“.
  • Komplementär: Regelhaftes Verhalten muss sinngemäß interpretiert und entsprechend umgesetzt werden, weil die Regel kein klares Handlungsschema vorgibt: Der Gleichbehandlungsgrundsatz und das Diskriminierungsverbot als Regel und Vorgabe muss auf einen Stellenbewerber mit Handicap hin sinngemäß ausgelegt werden.
  • Konfliktär: Regelhaftes Verhalten wäre in bestimmten Situationen nicht integer: Das betriebliche Lohn- und Prämiensystem würde bei einem MA nach einem Stellenwechsel zu einer erheblichen Ungerechtigkeit und zu einem Vertrauensverlust führen und die direkte Führungskraft soll diese Ungerechtigkeit verteidigen und umsetzen. Im schlimmsten Fall wäre eine Regel an sich, also nicht nur in bestimmten Konstellationen, ethisch fragwürdig.

Integrität ist Handeln im Zustand der Unsicherheit oder des Konflikts, wenn es entweder kein klares Handlungsschema gibt oder wenn persönliche Überzeugung konfliktär zu externen Erwartungen stehen. Dadurch ist es auch ein riskantes Handeln, weil der Beschäftigte u.U. mit negativen Folgen und Ablehnung rechnen muss, wenn er sich bewusst gegen ausgesprochene oder unausgesprochene Unternehmensregeln/Erwartungen stellt. Dies erschwert je nach Unternehmenskultur integres Handeln. So gesehen stehen Compliance und Integrität sowohl in einem Ergänzungsverhältnis als auch in einem Spannungsverhältnis.

Warum ist Integrität für Unternehmen wichtig

Integrität schafft Vertrauen

Integrität ist die Voraussetzung für Vertrauen. Vertrauen kann leichter aufgebaut werden, wenn man den anderen einschätzen kann. Das gelingt, wenn man die Erfahrung gemacht hat, dass der andere tut was er sagt, dass er verlässlich.

Vertrauen ist wiederum der Schmierstoff jeder Organisation, jedes Unternehmens. Ohne Vertrauen würden die ohnehin begrenzten Ressourcen zu einem großen Teil in die Kontrolle und Absicherung von Handlungen investiert werden, die dann der eigentlich Sacharbeit fehlen würden (aktuell: müssen Beschäftigte im Homeoffice ihre Arbeit dokumentieren und belegen oder wird ihnen vertraut, dass sie ihre Aufgaben erledigen). Außerdem würde dadurch noch mehr Komplexität erzeugt werden. Wie der Systemtheoretiker Niklas Luhmann richtig sagt, reduziert Vertrauen Komplexität, weil die beteiligten Akteure sich gegenseitig Anstand, Fairness und Ehrlichkeit zusprechen oder zumindest die Erwartung haben, dass, wenn man Vertrauen gibt, der jeweils andere dieses nicht enttäuschen möchte und entsprechend handelt (Reziprozität des Handelns). Dadurch werden Kontrolle und Schadensrisiken reduziert. Dies bezieht sich prinzipiell auf alle Stakeholderbeziehungen.

Integrität macht erfolgreich

Ein Geflecht positiver gegenseitiger Erwartungen ist die Grundlage aller gelungenen Austauschbeziehungen und damit auch des Wirtschaftens. Zahlreiche Untersuchungen und Experimente zum Kooperations- und Entscheidungsverhalten von Menschen und Gruppen belegen das. Wirtschaften ist trotz Digitalisierung in erster Linie immer noch eine Sozialbeziehung, die auf Vertrauen, also auf Wechselseitigkeit und Integrität aufbaut.

Zahlreiche Studien und Arbeiten zum Zusammenhang von Moral und Erfolg belegen, dass Unternehmen, die auf eine vertrauensvolle Kultur und auf moralische Werte Wert legen auch wirtschaftlich deutlich erfolgreicher als andere sind. Durch integres Verhalten wird eine werthaltige Unternehmensmarke und Reputation aufgebaut. Kunden, Konsumenten, Lieferanten, Fachkräfte vertrauen dem Unternehmen, unterstützen ihre Mission, kaufen ihre Produkte, wollen kooperieren oder mitarbeiten.

Leider trifft dies bei einigen großen Konzernen (Amazon, Apple, Facebook, VW, Nestle, u.a.) umgekehrt noch nicht zu: Sie sind überwiegend aufgrund von Marktmacht erfolgreich, handeln aber immer wieder und trotz aufgeblähter Complianceabteilungen nicht integer.

Werte als Orientierungsrahmen

In einer Studie der Hochschule Darmstadt und der A&B OneKommunikationsagentur GmbH, die auf einer branchenübergreifenden Befragung von 351 Führungskräften aus Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten basiert, stellten die Führungskräfte Integrität als „persönlich höchst relevant und motivierend“ für ihre Führungsarbeit dar. Danach hat Integrität eine deutlich stärkere kulturbildende Kraft und auch externe Wirksamkeit als Compliance. In der Befragung wird vor allem an das Management adressiert, dass es stärker werteorientiert handeln und die Rahmenbedingungen so gestalten soll, dass die Führungskräfte auf der mittleren und unteren Ebene auch integer handeln können. Ebenso sollten der Begriff der Integrität und die Werte, auf die Integrität sich beziehen (moralische und/oder unternehmerische Werte) stärker konkretisiert werden. Weiterhin sollten typische integritätskritische Handlungssituationen konkreter dargestellt werden. Insgesamt sollte das Thema „Integrität“ sehr viel stärker ins ganze Unternehmen kommuniziert werden. Soweit die Führungskräfte.

Die Studie offenbart insgesamt eine „chronische“ Konfliktlage zwischen einer eher unterentwickelten Integrität und einer dominanten Ergebnisorientierung in den Unternehmen. Ebenso sehr unterschiedliche Wahrnehmungen und Bewertungen über den „Bedarf“ an Integrität zwischen Management und Führungskräften. Aus Sicht der operativen Führungsebene hat Integrität jedenfalls eine zentrale Bedeutung.

 

Ernstfall Integrität

Die Werte und die Complianceregeln, die Unternehmen in ihren Leitbildern und auf ihren Webpages veröffentlichen sind Versprechen an ihre Stakeholder, allen voran an ihre Kunden, dann ihre Eigentümer, Mitarbeiter, Lieferanten und immer wichtiger auch an die Gesellschaft. Sie sind gleichzeitig Maßstab ihres Handelns und der „Test“ auf ihre Integrität. Häufig sind die Werte aber sehr allgemein gehalten: Respekt, Fairness, Vertrauen, Kundenorientierung, Gesetzestreue, Qualität, Diversität bedürfen einer situationsbezogenen Konkretisierung. Erst dann lässt sich sagen, ob und inwieweit die Handlung, das Vorgehen, der Prozess, etc. integer ist.

Leider ist es so, dass es eine solche situationsbezogenen Konkretisierung häufig nicht gibt, sodass die Werte dann nichts anderes als leere Worthülsen sind. Es ist zu vermuten, dass bei manchen Unternehmen diese notwendige Konkretisierung bewusst vermeiden wird, um keine Konfliktlagen entstehen zu lassen und das Tagesgeschäft nicht zu stören. Das Gleiche gilt für die Complianceregeln, sofern sie keine Gesetze, sondern unternehmensinterne Verhaltensregeln betreffen. Auch hier gilt: je weniger konkret eine Verhaltensregel ist, desto stärker ist man davon abhängig, dass der involvierte Beschäftigte integer und „moralsensibel“ ist. Wenn er das nicht ist, wird die Regel, werden die Werte im Konfliktfall auch nicht eingehalten, bzw. nicht abgewogen.

Beispiel Einkauf

Was macht der Einkäufer, dessen langjähriger Lieferant in eine wirtschaftliche Schieflage gerät? Falls er die Bezugsquelle schnell wechseln kann und dies auch macht, bringt er den Lieferanten noch mehr in die Bredoullie…

Was heißt Fairness und Loyalität in einem solchen Fall und wie könnten diese Werte hier konkretisiert und mit anderen, z. B. wirtschaftlichen Werten abgewogen werden? Wie hoch wäre das unternehmerische Risiko, wenn der Lieferant nicht gewechselt würde und welche Werte werden bei einer Risikobetrachtung zugrunde gelegt? Gäbe es ein Handeln, das vielleicht nicht fair aber doch für beide Seiten gut wäre?

Beispiel Qualitätsmanagement/Audits

Wie ausgeprägt ist die „Strenge“ und die Korrektheit des Auditors bei der Überprüfung der menschenrechtlichen Verpflichtung von Lieferanten entlang der Lieferkette?

Was steht im Auditprozess (Sache des Compliance) und was steht nicht drin, sollte aber beachtet werden, weil es dem Sinn der Regel entspricht? Wie weit geht die Beinfreiheit des Auditors? Wie werden Auditoren in dieser Hinsicht geschult und vorbereitet?

Beispiel Produktstrategie

Was bedeutet Kundenorientierung bei der Herstellung von Produkten in Bezug auf ihre Lebensdauer und ihre Qualität im Gegensatz zum Interesse des Unternehmens auf Absatz möglichst vieler Produkte?

Verzichtet das Unternehmen auf Umsatz und stellt stattdessen langlebigere und weniger störungsanfällige Produkte her, was im Interesse des Kunden und des Ökosystems liegen würde. Wie stark geht das Unternehmen in die Gewährleistung der Produkte (wie z. B. Kia mit der 7-Jahres Garantie auf die allermeisten Ersatzteile – außer reine Verbrauchsteile). Wo endet hier das Kundeninteresse und wo beginnt das eigene legitime Umsatz- und Renditeinteresse?

Beispiel Marketing

Welche Produkt- und Wirkungsversprechen macht ein Unternehmen Konsumenten, von denen sie wissen, dass sie sie niemals in dem vom Konsumenten normalerweise verstandenen Umfang erfüllen können und erfüllen wollen.

Ist das Wording solcher Versprechen, dieses Marketings nur eine „zulässige Übertreibung“ oder bewusst irreführend, wenn nicht gar falsch? Inwieweit verstoßen Unternehmen an anderer Stelle gegen „nachhaltige Prozeduren“, die mit solchen Versprechen zumindest indirekt kommunizierten werden, wie z. B. die Nestle Mineralwassermarke Vittel. Sie lobt einerseits ihr nachhaltiges Produktions- und Stakeholderkonzept, das durch NGOs begleitet wird und gräbt gleichzeitig der gleichnamigen Stadt Vittel das Grundwasser ab oder kauft Grundwasserquellen in Afrika zur Produktion von Mineralwasser für Europa, während die Menschen in diesen Regionen nicht genügend zu trinken haben. Wie hält es ein Unternehmen mit solch einem inkonsistenten Verhalten auch vor dem Hintergrund eines wahrscheinlichen Imageschadens?

Beispiel Führung

Wie verhindert ein Unternehmen Willkürverhalten von Führungskräften z. B. in der Arbeitsorganisation bei der Verteilung der MA auf begehrte und weniger begehrte Arbeitsplätze oder in der Leistungsbeurteilung? Willkürverhalten als sachlich nicht begründbares Verhalten, das ein oder mehrere Mitarbeiter benachteiligt, wäre ein Frontalangriff gegen jedes Integritäts- und Fairnessversprechen.

Gibt es ein Verfahren, mit dem unbegründete Benachteiligungen, Sanktionierungen oder subtile Angriffe gemeldet werden können und dabei dem oder den betroffenen Beschäftigten kein Nachteil entsteht. Hat das Management die Kraft solches Verhalten auch bei wichtigen und wirtschaftlich sehr erfolgreichen Führungskräften zu sanktionieren? Inwieweit werden Integritätsmerkmale bereits beim Recruiting erörtert und reflektiert?

 

Beispiel Kultur und Führung

Wie reagieren Führungskräfte und Mitarbeiter, wenn sich im Team eine Kultur des Betrugs und der üblen Nachrede etabliert: Wenn Beschäftigte zur Pause nicht abstempeln, wenn sie dauerhaft privat surfen, wenn Gerüchte gestreut werden, um andere zu schädigen.

Hier ist die Tugend des Mutes gefordert, wenn man dies als Kollege oder Führungskraft anspricht, zumal dann, wenn es ein ansonsten gutes Verhältnis zwischen Führungskraft und Beschäftigten gibt. Der Preis dürfte zunächst einmal Ablehnung, Unterstellung, etc. sein. Wie geht man in solchen Konfliktlagen am besten vor?

Was fördert Integrität im Unternehmen

Letztlich geht es bei der Frage der Integrität immer darum, ob der Einzelne, der mit einem integritätsrelevanten Sachverhalt konfrontiert ist, den „moralischen Moment der Situation“ erkennt. Weiter geht es darum, welche Möglichkeiten er sieht und objektiv auch hat, in einer solchen Situation integer zu handeln und ob er das Können und das Wollen hat, so zu handeln. Es geht also bei der Integrität immer um Rahmenbedingungen, um individuelle Fähigkeiten (Können) und um Überzeugungen/Werte (Wollen).

Vorbilder – Führungskräfte und Management

Eine entscheidende Rahmenbedingung zur Förderung der Integrität in Unternehmen ist das Handeln der Führungskräfte und des Managements. Beides sind Vorbilder für integres oder eben nicht-integres Handeln der Beschäftigten, ob sie es wollen oder nicht. Sie bestimmen maßgeblich die Normativität, die Art und Weise des Handelns und der Kommunikation, letztlich die Kultur im Unternehmen:

    • Gibt es ein angstfreies und offenes Kommunikationsverhalten oder wird „über Bande“ gespielt und über Dritte kommuniziert und verhandelt?
    • Wie handeln Führungskräfte in Konfliktsituationen? Ignorieren sie den Konflikt oder versuchen sie ihn ausgewogen und fair zu händeln? Wie stark ist die Konfliktbereitschaft der Führungskräfte?
    • Wie stark lassen sich Führungskräfte in ihrem Handeln von nicht sachbezogenen sozial-emotionalen Impulsen beeinflussen?
    • Werden Regelverstöße und ethisch nicht akzeptables Verhalten unabhängig vom „Rang“ der Person sanktioniert oder drückt man da oft ein Auge zu, je nachdem wer das Verhalten gezeigt hat?
    • Werden Fehleinschätzungen/Fehler sanktioniert oder versucht man daraus zu lernen?
    • Wird mutiges Verhalten bestraft oder als solches anerkannt?

Durch das Vorgesetztenverhalten wird für die Beschäftigten der Erwartungshorizont klar: integres und mutiges Handeln wird eher anerkannt oder eher bestraft; Fehler werden besprochen, um es beim nächsten Mal besser zu machen oder Fehler werden mit Fehlverhalten gleichgesetzt und sanktioniert. Je nach Führungshandeln legt sich jeder seine eigene Handlungsstrategie zurecht: Integres Verhalten, Anpassung, offene oder verdeckte Opposition. Die ethische Urteils- und Handlungskompetenz von Führungskräften dürfte jedenfalls der wirkungsvollste Hebel für integres Verhalten in einem Unternehmen sein.

Konkretisierung und Kommunikation von Unternehmenswerten

Eine weitere wichtige Rahmenbedingung ist die Konkretisierung und Kommunikation von Unternehmenswerten und Complianceregeln. Konkretisierung bedeutet, dass Werte am Beispiel von typischen Handlungssituationen in Handlungsvollzüge übersetzt werden müssen, wie z.B. in Bezug auf den Wert der „Verantwortung“ als Führungskraft: „ich werde genau hinschauen, wenn ich spüre, dass es eine ungute und ausgrenzende Stimmung im Team gibt und werde versuchen die bestehenden Konflikte zu bearbeiten“. Was bedeutet der Wert der „Ehrlichkeit“ für ein Außendienstler in Bezug auf die Kommunikation von Produkteigenschaften. Was heißt es konkret, in einer solchen Situation integer zu handeln und was macht man, wenn dies mit den eigenen Überzeugungen nicht kompatibel ist. Dies alles schafft Sicherheit und bewirkt, dass Werte verstanden, ins „Eigene“ überführt und gelebt werden, dass Compliance und Unternehmensleitbilder in die Kultur übergehen. Diese Konkretisierung und Kommunikation sollte durch alle Unternehmensbereiche gehen. Die Unternehmenswerte sollten wie der Laptop oder der Schraubenzieher zum Inventar eines jeden Beschäftigten gehören.

Hinweisgebersysteme

Ein Hinweisgeber- oder auch Whistleblowersystem ist eine Funktion, mit der individuelles und kollektives Fehlverhalten und Missstände auch anonym einer neutralen und v.a. vertrauenswürdigen Stelle im Unternehmen angezeigt werden können. Solche Hinweisgeberfunktionen werden häufig im Rahmen von Complianceabteilungen implementiert, können aber auch unabhängig davon (v.a. für kleinere Betriebe) in der Funktion einer/es externen Ombudsfrau/mann eingerichtet werden.

Das Problem einer solchen Funktion ist, dass sie zu einem Denunziations- und Verleumdungsinstrument missbraucht werden kann. Dies könnte v.a. in kritischen, von Misstrauen und Angst geprägten Unternehmenskulturen der Fall sein. Dennoch könnte eine solche Funktion selbst in so einem Fall trotzdem wertvoll sein, weil sie dadurch genau diese „kritische Kultur“ aufdecken würde.

Der betroffene Beschäftigte sollte zumindest bei einer anonymen Anzeige keine Angst vor Repressalien haben. Das Problem bei einer anonymen Anzeige besteht allerdings darin, dass mindestens ein wesentlicher „Zeuge“ fehlt, neue Zeugen eruiert werden müssten und die Wahrscheinlichkeit einer „Überführung des Täters“ geringer ist. Bei einer nicht anonymen Anzeige besteht für den Hinweisgeber das Risiko der Ausgrenzung als „Verräter“, „Verleumder“, Nestbeschmutzer, etc..

Deshalb kommt es bei der Implementierung solcher Systeme stark auf die Neutralität, die Vertrauenswürdigkeit und die fachlichen und prozessualen Kompetenzen des Stelleninhabers sowie auch auf den Hinweisgebeprozess (online, telefonisch, persönlich) an: wie stark schützt er den Hinweisgeber, wie stark sind die Verzerrungen in der „Hinweisgeberkette“ und welche Handlungsmöglichkeiten hat die Vertrauensperson.

Insgesamt sind solche Systeme ein starkes Instrument zur Durchsetzung von Regeln, zur Aufdeckung destruktiver informeller Eigenleben im Betrieb und zur Diskussion über Werte im Unternehmen. Ob sie auch ein geeignetes Instrument zur Verbesserung der individuellen Integrität sind, steht eher zu bezweifeln, denn mit der Angst vor Verfolgung und Sanktionierung hat man noch niemand zum „besseren Menschen“ gemacht.

Führungskräftetraining

Das Handeln der Führungskräfte und des Managements beeinflussen das Verhalten der Beschäftigten und prägen die Unternehmenskultur maßgeblich. Deshalb ist es entscheidend, dass die Führungskräfte nicht nur „intuitiv anständig“ handeln (was sehr wertvoll und wahrscheinlich bei sehr vielen Führungskräften auch der Fall ist), sondern reflektiert anständig und integer sind. Der Unterschied zwischen „intuitiv anständig“ “ und „reflektiert anständig“ wäre: „ich handle nicht immer so wie ich bin, sondern ich erkenne meine sozialen und emotionalen Impulse und distanziere mich von ihnen, wenn sie mich daran hindern sollten anständig zu sein.“ Hier wird zugrunde gelegt, dass auch der anständigste Mensch nicht frei von Vorurteilen und Bedürfnissen ist, die Ehrlichkeit, Respekt und Fairness in bestimmten Situationen verhindern können. Eine solche „reflektierte Anständigkeit“ kann man in einem Ethiktraining lernen. Gegenstand eines Ethiktrainings sind ganz konkrete und schwierige Handlungs- und Entscheidungssituationen, die in kleinen und interdisziplinären Gruppen (ähnlich der kollegialen Fallberatung) nach ethischen Kriterien reflektiert werden. Ziel eines solchen Trainings ist das Erkennen des „moralischen Moments“ einer Situation, das Anwenden von ethischen Maßstäben, das Einüben von Perspektivenwechsel, und die Entwicklung von verschiedenen Handlungsstrategien in einer integritätskritischen Situation. Hier geht es um das „Können“!

Führungskräfterecruiting

In Bezug auf die Verbesserung der Integrität eines Unternehmens wäre es natürlich am effektivsten, bereits beim Recruiting auf Integritätseigenschaften der Bewerber zu achten. Voraussetzung dazu wäre es, Kriterien festzulegen, aufgrund derer man auf Integrität schließen kann. Ebenso wären „integritätskritische Szenarien“ zu entwickeln, die mit den Bewerbern reflektiert würden, um ihre Haltungen zu eruieren. Dies ginge aber deutlich über die üblichen Bewerberfragen und Assessments hinaus. Entsprechende Recruitingkonzepte wären zu entwickeln. Ziel sollte es sein, moralisch handlungskompetente und reflektierte Führungskräfte zu gewinnen. Hier geht es um das „Wollen“

Fazit

Sollte einem Unternehmen Integrität tatsächlich wichtig sein und nicht nur als „Marketingtool“ benutzt werden, um es in ein besseres Licht zu stellen, sollte es Rahmenbedingungen schaffen, die Diskussionen über Unternehmenswerte und richtiges und falsches Verhalten auf breiter Ebene ermöglichen. Es sollte zwischen fehlerhaftem und böswilligem Fehlverhalten unterscheiden, es sollte Wertekonflikte als normal akzeptieren, die es durch begründete Abwägung löst und es sollte in die moralische Kompetenz ihrer Führungskräfte investieren. Erst dann hat Compliance den starken Partner, den es braucht, damit Regeln und Werte nicht nur geschrieben, sondern auch gelebt werden.